Hans Fröhlich, Sankt Augustin
Der sichere Weg zur Höhe – Mathematische Modelle zur Analyse und Auswertung von Nivellements im Programm NIVNETplus
1 Einleitung
Durch die Benutzung moderner Digitalnivelliere (von Leica, Zeiss, Topcon oder SOKKIA) verliert der Beobachter jeglichen persönlichen Kontakt zu den ermittelten Messwerten, denn im Zuge der automatischen Registrierung sammeln diese Instrumente die Informationen und erst nach dem Überspielen in den Computer, z. B. einen PC, begegnet der Beobachter/Auswerter dem Messzahlenmaterial sozusagen das erste Mal. Je nach Größe des beobachteten Projektes erweist sich das Zahlenwerk als so umfangreich, dass jeglicher Überblick verloren geht. Um trotzdem zu plausibelsten Höhen für die nivellierten Punkte zu gelangen, wird in der Regel die Ausgleichung nach der Methode der kleinsten Quadrate (MdklQ, auch L2-Norm; „L“ steht für den Mathematiker LEBESQUE) in Anwendung gebracht, die auch im nicht überbestimmten Fall die gesuchten Ergebnisse liefert. Nun liegt es in der Natur von Nivellements, dass sie von Haus aus schwach überbestimmt sind und die der MdklQ anhaftenden Verschmierungseffekte den Auswerter (auch bei Berücksichtigung von Ausreißertests) in seinen Erscheinungen z. T. stark verunsichern können (Bild 1).
Somit entsteht der Wunsch, neben diesem Auswertealgorithmus noch andere Auswertewerkzeuge (Tools) zur Verfügung zu haben, um sicher zu den Höhen der nivellierten Punkte zu gelangen.
Durchforstet man die bisher beim Nivellement in Ansatz gebrachten (traditionellen) Methoden und sucht über die Mathematik/Statistik nach weiteren Möglichkeiten, so lässt sich eine ganze Werkzeugkiste (Toolbox) zusammenstellen. Die in dieser Toolbox enthaltenen Auswertemodule werden nachstehend vorgestellt und ihre Realisierung im Programm NIVNETplus beschrieben.
2 Mathematische Modelle
2.1 (Amtliche) zulässige Abweichungen
Im Zuge der Qualitätssicherung bemüht sich der Beobachter durch Wahl geeigneter Messverfahren und –anordnungen möglichen Fehlerquellen schon im Vorfeld entgegenzutreten; z. B. durch die
(a) Beobachtungsreihe RVVR – Eliminierung des Einsinkeffektes des Nivellierinstrumentes;
(b) Beobachtung einer Nivellementstrecke im Hin- und Rückweg – Eliminierung des Einsinkeffektes der Latten.
Die im Zuge von (a) schon vor Ort zu rechnende Standprobe weist den Beobachter ad hoc darauf hin, ob die vorgegebene/angestrebte Toleranz eingehalten worden ist oder ob umgehend neu zu beobachten ist. Sie scheidet a priori für ein Post-processing aus, während die Behandlung von (b) i. d. R. a posteriori stattfindet. So bietet die traditionsreiche Landesvermessung folgende Formel für den größten zulässigen Streckenwiderspruch Zs an:
mit S der Streckenlänge in km, A = 0,5 und B einem von der Ordnung des durchgeführten Nivellements abhängigen Koeffizienten. Die geeignete Wahl von A und B erlaubt auch eine Qualitätssicherung für Projekte mit geringen Punktabständen (Ingenieurvermessung) oder mäßigen Genauigkeitsansprüchen (topographische Geländeaufnahme).
2.2 Ausreißertest mittels Data-snooping
Nun besteht die Möglichkeit, dass der Datenbestand für eine Verbindung zwischen zwei benachbarten Punkten (Niv-Strecke) oder auch zwei Knotenpunkten (Niv-Linie) mehrere Beobachtungen mit z. T. unterschiedlichem Wegverlauf beinhaltet. Unterzieht man eine solche Messreihe einer Ausgleichung nach der MdklQ, so erhält man bekanntlich neben dem gewogenen arithmetischen Mittel als plausibelsten Schätzwert die Verbesserungen Vi, die es in Verbindung mit der Testgröße
gestatten, mit einer vorgegebenen Irrtumswahrscheinlichkeit festzustellen, ob Ausreißer im Beobachtungsmaterial enthalten sind; s 0 bezeichnet die Standardabweichung der Gewichtseinheit a priori, s Vi die der Verbesserung und QViVi den Kofaktor von Vi. Ti wird auch als normierte Verbesserung NV bezeichnet. Enthält die Messreihe genau einen Ausreißer GF
mit Ri, der Redundanz der betreffenden Beobachtung Li, lässt sich dieser lokalisieren und vom Betrag her angeben.
Mehrere Ausreißer erzeugen durch Überlagerung Verschmierungseffekte, sodass ein iterativer Prozess zur Ermittlung der Beobachtung mit dem jeweils größten Ti-Wert und ihrer anschließenden Bereinigung – nach Rücksprache mit dem Beobachter – durchzuführen ist. Dieses Werkzeug trägt dazu bei, ggf. Nachmessungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
2.3 Schleifenwidersprüche
In Nivellementnetzen spielt die Schleifenbildung seit jeher eine bedeutende Rolle. Zum einen diente sie zur Herleitung von Bedingungsgleichungen im Zuge der bedingten Ausgleichung nach der Methode der kleinsten Quadrate, wodurch sich die Anzahl der Unbekannten im zu lösenden Gleichungssystem z. T. erheblich reduzieren lässt. Zum anderen wird erwartet, dass die Summe der beobachteten Höhenunterschiede einer Schleife (abgesehen vom theoretischen Schleifenschlussfehler) sich zu Null ergibt. Abweichungen vom Wert Null, der Schleifenwiderspruch, sind als Beobachtungs-, Registrier- oder Rechenfehler anzusehen.
Während die Ausgleichung unter Verwendung von Bedingungsgleichungen in den Hintergrund getreten ist, gilt der Berechnung von Schleifenwidersprüchen bei der Auswertung von Nivellementnetzen weiterhin ein besonderes Augenmerk, da diese simple Bedingung
Schleifenwiderspruch = 0?
dazu benutzt werden kann, Ausreißer in den Beobachtungen aufzudecken.
Für die automatisierte Bildung von Schleifen in Nivellementnetzen lassen sich verschiedene, mehr oder weniger einfache Lösungen finden. So führt man für jede zu bildende Schleife die Punktnummernfolge dem Programm z. B. aus einer externen Datei zu oder man verfügt zusätzlich über Lagekoordinaten der Punkte und entwickelt einen Algorithmus ausgehend von diesen Zusatzinformationen. Fazit: Diese Lösungen verlangen außer der Erfassung der reinen Nivellementbeobachtungen (Anfangspunktnummer, Endpunktnummer, Höhenunterschied, Weglänge, Standardabweichung) die Erfassung von Zusatzinformationen.
Es lässt sich aber auch ein Algorithmus ausgehend von den Basisdaten Anfangspunktnummer, Endpunktnummer und Weglänge entwickeln, sodass keine Zusatzinformationen obiger Art erforderlich werden. Hierbei wird davon ausgegangen, dass jede Niv-Strecke nur einmal im Datenbestand enthalten ist. Auf der Grundlage der Graphentheorie wird versucht, vom Endpunkt einer Nivellementstrecke auf dem kürzesten Weg zum Anfangspunkt zu gelangen, ohne diese Beobachtung zu benutzen. Da dies für jede Beobachtung eines Netzes durchgeführt wird, kann es vorkommen, dass ein und dieselbe Schleife mehrfach erzeugt wird; z. B. immer dann, wenn zwischen zwei Knotenpunkten noch Linienpunkte liegen.
Um eine Aussage über die Zulässigkeit der Schleifenwidersprüche machen zu können, bietet wiederum die Landesvermessung folgende Formel für den zulässigen Schleifenwiderspruch Zu an:
[km]
C Projektabhängiger Koeffizient
U [km] Schleifenumfang
2.4 Datenanalyse mittels L1-Norm
Zur Untersuchung und Lokalisierung des Datenmaterials auf Ausreißer bietet der auf BOSCOVIC und LAPLACE zurückgehende L1-Norm-Schätzer besondere Vorteile. Dieses Verfahren ist im Gegensatz zur MdklQ (L2-Norm-Schätzer, Verschmierungseffekte) in höherem Maße robust, wobei unter dem Begriff Robustheit der Schutz vor unerkannten Ausreißern (Verschmierungseffekte) zu verstehen ist.
Die L1-Norm-Methode verwendet die Zielfunktion
d. h. minimiere die Absolutsumme der Verbesserungen. Liegen von Haus aus unterschiedlich genaue Beobachtungen vor, lassen sich diese ähnlich der MdklQ durch die Einführung von Gewichten berücksichtigen.
Die Lösung wird im Zuge der linearen Programmierung dadurch herbeigeführt, dass aus der Modellmatrix A dasjenige konsistente (widerspruchsfreie) System A0 gesucht wird, das die Zielfunktion erfüllt.
Mit dem so gefundenen konsistenten System lassen sich die Höhen der Punkte eines Verfahrens eindeutig (nicht übereinstimmend) bestimmen (Bild 2).
Beispiel
Zur Ermittlung von Ausreißern findet man folgende Testgröße:
mit
(Definition von s 0 und QViVi vgl. Abschnitt 2.2)
Da das konsistente System keine Vi liefert, werden die Vi der überschüssigen Beobachtungen mit d i bezeichnet und die Gleichung geht über in
Die s d i leiten sich ab aus dem Matrizenprodukt
mit
Ar dem die Verbesserungen (Residuen) erzeugenden System
Q00 der reziproken Gewichtsmatrix der Beobachtungen des konsistenten Systems.
Überschreitet Ti den Schwellenwert, liegt mit der gewählten Irrtumswahrscheinlichkeit – sie bestimmt das Signifikanzniveau – ein Ausreißer vor.
Ti > Schwellenwert?
2.5 Ausgleichung nach der MdklQ (L2-Norm)
2.5.1 Aufdeckung von Konfigurationsdefekten
Die Auflösung des (Normal-)Gleichungssystems bei der MdklQ schlägt dann fehl, wenn z. B. durch falsche Punktnummernvergabe das Netz aus mehreren unzusammenhängenden Teilnetzen besteht. Leider geben dann die üblichen Lösungsalgorithmen keinen lokalisierenden Hinweis, sodass der Datenbestand ggf. von Hand z. B. durch mühsames Übertragen in eine Graphik (Netzbild) nachvollzogen werden muss. NIVNETplus bietet einen Lösbarkeitsalgorithmus.
Geht man jedoch wie folgt vor, so lassen sich Konfigurationsdefekte in Nivellementnetzen sehr schnell aufspüren:
(a) Zunächst erhalte jeder am Verfahren beteiligte Punkt bis auf einen (K = 1) die Kennung K = 0.
(b) Ausgehend von dem (den) Punkt(en) mit der Kennung K = 1 wird versucht, mit den vorhandenen Beobachtungen die anderen Punkte zu erreichen.
(c) Erreichte Punkte erhalten die Kennung K = 1, verwendete Beobachtungen scheiden aus.
(d) Weiter bei (b), bis keine neuen NivP mehr erreicht werden können.
Am Ende dieses Prozesses lässt sich somit die Aussage treffen, dass Punkte mit der Kennung K = 0 nicht mit dem Netz zusammenhängen.
Unter Verwendung weiterer Kennungen und Fortführen des Prozesses erhält man Anzahl und Umfang aller Teilnetze.
2.5.2 Ausgleichungsarten
Freie Ausgleichung
Im Zuge einer freien Ausgleichung werden alle NivP als Neupunkte angesehen. Eine zusätzlich einzuführende Bedingung sorgt für die Lösbarkeit des Systems. Sie bewirkt, dass die ausgeglichenen Höhen dem Niveau „Null“ so angepasst werden, dass
(a) die Quadratsumme der Abweichungen (auch Restklaffungen) der ausgeglichenen Höhen vom Niveau „Null“ ein Minimum
(b) die Quadratsumme der Varianzen minimal (Gesamtspurminimierung)
(c) die Quadratsumme der gewichteten Verbesserungen minimal wird.
Diese Art der Ausgleichung liefert einen objektiven Überblick über die Genauigkeit der Beobachtungen und des daraus abgeleiteten Netzes, da kein Zwang von außen zugeführt wird.
Gezwängte Ausgleichung
Ein Nivellementnetz kann an einen oder mehreren Festpunkten angeschlossen werden. Hierzu zählt auch die Auswertung einer einzelnen Nivellementlinie im Anschluss an 1 oder 2 Festpunkte. In der Auswertung (Ausgleichung) erhalten die Festpunkte keine Änderungen, die Neupunkte erhalten ausgeglichene Höhen nebst deren Fehlern. Die ausgeglichenen Beobachtungen und die Verbesserungen werden bestimmt.
Auffelderung
Im Gegensatz zur freien Ausgleichung kann das Netz hier auf einen, mehrere oder alle Punkte gelagert (transformiert, aufgefeldert) werden. Vorausgesetzt wird dann, dass Höhen dieser NivP vorhanden sind und der Auswertung zugeführt werden.
Diese Art der Ausgleichung entspricht der Anpassung eines Höhennetzes nach der freien Ausgleichung an vorgegeben Höhen:
(a) Alle Punkte werden auf das Niveau der Auffelderungspunkte bezogen; die Summe der Abweichungen (Restklaffungen) der ausgeglichenen Höhen der Auffelderungspunkte zu diesen Ausgangshöhen wird Null und die Quadratsumme zum Minimum;
(b) Minimierung der Quadratsumme der Varianzen;
(c) Die Quadratsumme der gewichteten Verbesserungen wird minimal.
Die ermittelten Restklaffungen können so zur Interpretation von Punkthebungen und –senkungen herangezogen werden.
Durch Variation der Auffelderungspunkte lässt sich ein Überblick über höhenbeständige Punkte ohne Kenntnis irgendwelcher wahrer Festpunkte erzielen.
Netzdesign
Im Zuge einer Projektplanung kann es von Interesse sein, ob mit dem häuslichen Netzentwurf oder dem vor Ort erkundeten Netz
(a) die gesuchten Höhen mit der vorgegebenen Genauigkeit bestimmbar sind,
(b) ob die geplanten Beobachtungen im gewünschten Umfang kontrolliert sind,
(c) und ob ggf. auf Beobachtungen verzichtet werden kann.
Dieser Problemkreis lässt sich mit der MdklQ auch ohne Beobachtungen abklären, wenn lediglich die Informationen Anfangspunktnummer, Endpunktnummer, Weglänge und a priori Standardabweichung vorliegen, da alle erforderlichen geometrischen Informationen in der Designmatrix (Modellmatrix) und alle stochastischen in der Funktion aus Weglänge und a priori Standardabweichung (sie repräsentiert die Qualität von Instrumentarium und Messtrupp) stecken.
2.5.3 Globaler Modelltest – Chi²-Test
Mit diesem Modelltest wird getestet, ob das gewählte mathematische Modell genügend gut der Wirklichkeit angepasst ist, dass also keine Ausreißer oder nicht erkannte (und somit nicht modellierte) systematische Einflüsse vorliegen.
mit s o der Standardabweichung der Gewichtseinheit a priori und s 0 der Standardabweichung der Gewichtseinheit a posteriori, Chi²(F,a) dem Fraktilwert der Chi²-Verteilung mit dem Freiheitsgrad F und dem Irrtumsrisiko a.
Fällt der Modelltest positiv aus, so kann das mathematische Modell mit dem Irrtumsrisiko a akzeptiert werden. Andernfalls muss das mathematische Modell überprüft werden. Beim Nivellement gilt es zu untersuchen, ob z. B.
(a) es im Beobachtungsmaterial Ausreißer gibt; Anwendung der freien Netzausgleichung,
(b) die Anschlusshöhen mit Fehlern behaftet sind. Gegenüberstellung der Ergebnisse der freien und zwangsangeschlossenen Ausgleichung und ggf. Anschlusspunktanalyse mittels Auffelderung.
3 Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund des totalen Datenflusses wurden mathematische Modelle zur Analyse und Auswertung umfangreicher Nivellementdatenbestände vorgestellt und ihre Realisierung im Programm NIVNETplus aufgezeigt. Es dürfte somit gewährleistet sein, dass aus den Beobachtungen sichere Höhenwerte für die NivP abgeleitet werden und somit NIVNETplus einen Beitrag zur Qualitätssicherung im Vermessungswesen liefert.